17.09. Tag Acht. Nächtliche Störungen. Rückreise nach München

Zum Anfang des Tramper-Berichtes.

Etwas grollte.

Unpassend, bei dem ganzen Nichts. Ich wollte es vertreiben.

Es war ein hartnäckiges, anschwellendes Grollen. Immer schneller sog es mich aus den Fluten, dann schwappte ich in die Wirklichkeit. Ich rieb mir die Augen und sah mich um. Unten flackerte ein Lichtkegel durchs Unterholz. Jemand quälte sein Motorrad den Maultierpfad hinauf. Es ächzte um die letzte Biegung, schlackerte mit seinem Scheinwerfer über meine Terrasse und grölte weiter nach oben. Ich schlief wieder ein.

Etwas dröhnte. Und ich dachte an die Übernachtung neben der Autobahn. Ich war sofort wach. Trüb graute der Morgen. Ich fuhr mir mit der Hand durch die Haare und blickte zu der Wegbiegung hinab. Dort wälzte sich gerade ein gelbes Pritschenfahrzeug mit offener Kabine um die Ecke. Ein Mann lenkte im Führerstand, zwei weitere schoben. Sie blickten herüber, einer grinste, wir grüßten uns. Dann waren sie vorbei. Es war sieben Uhr und ich stand auf. Der Benzinkocher stand noch an seinem Platz.

Inhaltsverzeichnis

Eine Felswand am Rande des Wanderweg 404 am Gardasee.
Nebel in den Bergen

Ich zündete ihn an, füllte den halbherzig gespülten Nudeltopf mit Wasser, setzte mich hin und wartete. In meinem Rucksack müssten noch einige Beutel Schwarztee sein. Der Tee war da, es mangelte an Zucker. Mir kam der vermessene Gedanke, ob nicht auch eine Messerspitze vom Schokoaufstrich meinen Ansprüchen genügen würde. Die Mischung aus Pesto von den Nudeln gestern und Schokolade mit einem Hauch von Schwarzteegeschmack klebte mir noch lange auf der Zunge. Gestern beim Einschlafen hatte ich beschlossen, heute zurück nach München zu trampen. Ich trank die Tasse aus, packte meine Sachen und ging weiter den Berg hinauf. Der Rucksack drückte mich und meine Stimmung nach unten. Wieder bereute ich es, so viel mitgenommen zu haben. Schwer, dagegen anzukämpfen. Für 700 Höhenmeter brauchte ich vier Stunden. Die bleigrauen Wolken kamen näher, es fing an zu nieseln. Irgendwann, etwa 150 Meter unter dem Gipfel, erreichte ich eine Kreuzung.

Höher wollte ich nicht, es schmeckte nach Gewitter. Neben dem Wegweiser verschnaufte ich bei einer Zigarette und fotografierte.

Wanderweg 404 am Gardasee. eine Weggabelung und ein abgestellter Wanderrucksack.
Eine Abzweigung des Wanderweg 404 am Gardasee.

Dann spazierte ich den Wanderweg 404 nach unten. Kaum ein paar Meter weiter, um einen Felsen herum, erreichte ich die Kante einer Wand. Fast anderthalb Kilometer tiefer lag Riva. Als ich vor einigen Tagen dort unten auf mein Geld wartete, hatte ich oft die beeindruckenden Felsen hinauf gesehen. Und nun würde ich genau dort absteigen.

Vierzehnhundert Meter über Riva
Ein Abhang über Riva del Garda.

Ich bin kein Bergsteiger. Ausgesetztheit flößt mir gehörigen Respekt ein, in meinem Bauch breitete sich ein flaues Gefühl aus. Auf dem Weg nach unten ertappte ich mich, in Ermangelung eines Partners, bei Selbstgesprächen. Es macht keinen Spaß, alleine zu wandern, mir jedenfalls nicht. Donner grollte durch die Wand. Es regnete zeitweise ziemlich kräftig. Ich beeilte mich. Auf den Wegstücken zwischen den Kehren rannte ich und so war ich nach zweieinhalb Stunden nur noch etwa 100 Meter über der Stadt. Obwohl auch ich nur relativ wenig gewandert war, kam es mir komisch vor, als ich einer Gruppe ziemlich beleibter deutscher Touristen in Sandalen „das Wandern ist des Müllers Lust“ singend, begegnete. Sie seien auf dem Weg Richtung Klettersteig, wie sie sagten.

Hoch über Riva del Garda
Noch einmal Riva del Garda von oben

Na ja, ich vermute mal, sie sind nicht mehr weit gekommen. Kurz darauf kam ich im verregneten Riva an und stellte mich in Richtung Trento an die Straße. Es war ein banger Moment. Würde mich jemand bei diesem Wetter mitnehmen? Mich, dem man ansehen konnte, dass er seit Tagen nicht mehr geduscht hatte? Würde ich heute noch nach München kommen? Es war schon vierzehn Uhr und eine Nacht irgendwo am nasskalten Brenner wollte ich nicht unbedingt erleben. Ich hatte Glück. Nach fünf Minuten hielt ein rothaariger Italiener und hieß mich einsteigen. „Come in!“,

Er grinste und strich über seinen ausgeprägten Ziegenbart.

Ich packte meinen Rucksack in den Kofferraum und stieg ein. Beide des Englischen nur bedingt mächtig, machte es einen Heidenspaß, sich mit Händen und Füßen zu verständigen. Gigi hieß er: „Where are you from?” „Siegen, near Cologne and I want to go to Munich.“ “Ah, Monaco!“ „Hä?! No, not Monaco. Munich, München!“ „Yes, Monaco.“

Es dauerte eine Weile, bis ich begriffen hatte, wir redeten also durchaus von derselben Stadt. Er dachte kurz nach. Dann fragte er, ob ich über den Brenner müsse, „ja klar“, sagte ich. Gigi griff nach seinem Handy und telefonierte wild gestikulierend. Ich verstand nur „brennero“ und „Autostopp“ und ahnte schon, was kommen würde. Er legte auf und sagte: „Das war meine Freundin. Wir treffen sie im nächsten Dorf und fahren dann nach brennero. Was hältst du davon?“ Hätte ich nein sagen können? Es hatte mich also wieder erreicht, dieses trampertypische „mehr Glück als Verstand“ Lebensgefühl. Gigi hatte einen ziemlich leichtsinnigen Fahrstil. Wir hielten neben einem Café. „Sollen wir rein gehen und was trinken? Meine Freundin kommt gleich.“ Ich hatte nichts dagegen. Da saßen wir, tranken Kaffee, unterhielten uns, lachten, wenn wir uns nicht verstanden. Er fragte nach meinem Beruf, verstand „nursing“ nicht und mir fiel keine andere Umschreibung ein. Wir einigten uns darauf, dass ich im Krankenhaus arbeite und kein Arzt bin. Gigi ist Sesselliftwärter oder wie man das nennt, er arbeitet jedenfalls mit Sesselliften zusammen, so genau habe ich das nicht verstanden. „Sie ist da“, sagte Gigi und bezahlte einfach so meinen Kaffee. „Auf geht’s“. Elena hieß sie und sah auch so aus. Ein schöner Name. Es folgten eineinhalb Stunden Autobahn durch verregnetes Südtirol. An einer Raststätte kurz vorm Brenner tranken wir wieder einen Kaffee, natürlich auf Gigi´s Kosten, er ließ sich da nichts nehmen. Beim Abschied drückte er mir einen Zettel in die Hand; wenn ich nochmal in der Nähe wäre, sollte ich mich melden. Ich sah dem Auto nach. Ein feiner Kerl, der Gigi. Echt.

Eine Viertelstunde pausierte ich vor dem Klohäuschen, Rucksack und mich an die Telefonzelle gelehnt, den Parkplatz im Blick. Ich genoss zwei Zigaretten. Auf Vorrat. Der Sucht wegen.

Dann kurvte ein mittelalter weinroter Citroën mit Münchner Kennzeichen auf den Parkplatz. Schon aus der Ferne wusste ich instinktiv: Der nimmt mich mit. Wirklich, so ist das bei mir. Wenn ich erstmal ein paar Tage unterwegs bin, dann entwickle ich ein Gespür für Mitfahrmöglichkeiten. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich, wenn ich ein Auto ins Visier genommen habe, aggressiver vorgehe; einerlei. Der Wagen hielt, hinaus stieg ein drahtiger Mann. Sein Alter lag irgendwo in den Sechzigern. Nervös blickte er umher, schloss den Wagen ab und ging auf mich zu. Er trug ein ausgebleichtes gelbes T-Shirt und eine grau-blaue abgewetzte Jeans. Der ganze Mensch wirkte irgendwie fahl. Seine Haut war mehr grau als rosig, seine Schuhe staubig. „Geschäftsmann in Rente“, schätzte ich, „Kettenraucher“. Gehetzten Schrittes näherte er sich dem Bistro. Ich verließ eilig meinen Beobachtungsposten und schnitt ihm den Weg ab: „Entschuldigen Sie, fahren Sie nach München?“ Der Mann musterte zuerst mich und dann meinen Rucksack. „Er hat Angst, pass auf!“, dachte ich. „Könnten sich Sie sich vorstellen, mich mitzunehmen?“ Der Mann schien zu überlegen, ob er nicht irgendwie fliehen könnte: „Haben Sie keinen anderen, mit dem Sie fahren können?“ „Nee hab ich nicht. Ich müsste weiterfragen und das kann lange dauern. Aber, wenn Sie nicht wollen …“ Er zögerte. „Passen Sie auf: Ich trinke einen Kaffee, lass mir das durch den Kopf gehen und sage Ihnen dann gleich Bescheid.“ „Schön! Ich warte hier.“ Weg war er.

Na, das konnte ja heiter werden. Mit dem würde ich sicher nicht ins Gespräch kommen. Ich steckte mir noch eine Zigarette an und malte mir eine schweigsame Fahrt nach München aus. Ich wartete in der Nähe seines Autos und beobachtete die Tür des Bistros. Auf dem Rucksack sitzend rauchte ich noch eine. Man kann ja nie wissen. Nach einer Viertelstunde kam der Mann zurück. Als er näher kam, wischte er sich mit der Hand über den Mund. Ich stand auf und ging auf ihn zu. „Sie haben keinen Anderen gefunden?“ „Tut mir leid, nein.“ „Hm. Es ist mir eigentlich nicht so recht. Wissen Sie ich habe schlechte Erfahrungen mit Trampern gemacht. Ich bin zweimal ausgeraubt worden.“ „Oh das ist nicht schön.“ „Deswegen nehme ich heute eigentlich niemanden mehr mit. Früher war das anders, ich weiß ja, wie unangenehm es ist, irgendwo nicht weiterzukommen.“ Richtig abgeneigt schien er nicht mehr zu sein. „Wissen Sie, ich habe keineswegs vor, Sie auszurauben. Ich möchte nur heute noch nach München, weil ich sonst die Nacht im Regen verbringen muss.“ Das war übertrieben. Ich hätte sicherlich eine Scheune oder dergleichen gefunden. Zumal ich ja noch reichlich Zeit gehabt hätte mir einen Schlafplatz auszusuchen. Aber die Möglichkeit in einem richtigen Bett zu übernachten, war verlockender. Erwartungsvoll sah ich den Mann an.

„Na schön, Sie können mitfahren.“ Er packte einige Sachen, die auf dem Beifahrersitz lagen, auf die Rückbank. Dann stiegen wir ein. Der Mann – wir haben uns nicht mit Namen vorgestellt – war wider Erwarten ein sehr gesprächiger Zeitgenosse. Und ein sympathischer noch dazu. Er sei früher auch oft getrampt, allerdings bis nach Nordafrika und weit in den Nahen Osten hinein. Er hörte überhaupt nicht mehr auf, kramte eine Anekdote nach der anderen aus seinen Erinnerungen. Einmal war er als blinder Passagier in einem Güterzug mitgefahren, ein anderes Mal fast im Gefängnis gelandet. Er hatte nur weiterreisen können, weil das Missverständnis im letzten Augenblick aus der Welt geschafft wurde. Es war wirklich spannend. Jetzt lebt er die meiste Zeit in einer Wohnung irgendwo in Süditalien. Nur drei, viermal im Jahr fährt er noch nach Deutschland zurück und immer nur für einige Wochen.

Die Zeit jedenfalls verging wie im Flug. Erstaunlich schnell kamen wir in München an. Gegenüber der U-Bahnhaltestelle Thalkirchen ließ er mich aussteigen. Die Verabschiedung war herzlich. Es ist immer wieder erstaunlich, welch interessante Menschen man kennenlernt. Der Mann drehte mitten auf der Straße, hupte zum Abschied. Und ich war jetzt wieder hier, mitten im Rummel des Oktoberfestes.

10 Gedanken zu „17.09. Tag Acht. Nächtliche Störungen. Rückreise nach München“

  1. Passiert mir nicht oft, dass ich längere Texte in einem blog lese. Der hier hätte noch weitergehen können.
    Klasse.
    Ich werd dich verlinken, wenn du nichts dagegen hast.
    Schreibst du auch wenn du nicht aussteigst?

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  2. Danke euch allen.

    @500:

    Bald. Vielleicht.
    Wirklich, ein bisschen fürchte ich mich vor diesem Schritt. Vor der hohen Kunst ausgedachte Geschichten mit Echtheit zu füllen.

    Und gegen einen Link habe ich natürlich nichts. Es freut mich sogar.

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  3. Sehr Schön. Ich lese eigentlich auch keine langen Geschichten, schon garnicht auf Blogs aber diese war wirklich hübsch.

    Gruss
    Hank

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  4. Oh, wie lange habe ich auf das Ende gewartet, habe mir schon Sorgen gemacht 😉

    Wieder sehr schön geschrieben, es war eine Freude, das mitzuerleben. Ich würde mich freuen, wenn es neue Erlebnisse zu lesen gibt !

    Danke !

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  5. ich lese eigentlich keine so langen texte , deine wortwahl ist so malerisch das man fast dabei gewesen sein könnte. danke. gruß
    bin über das aussteigerforum hier her gelangt

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  6. Ich hätte jetzt so richtig Lust, einfach loszutrampen. Die Story hat mir sehr gut gefallen und ich habe beschlossen auch wieder über das Reisen zu schreiben.
    Hab mir erlaubt, Dich zu verlinken. Bin über den Link beim Dezemberkind hier her gekommen.

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  7. Kommt da noch was?

    Letzter Eintrag hier von Februar 06!

    suche Kontakte für ein europäisches Literaturprojekt. Wir bräuchten genau solche Texte. Wenn noch jemand da is bitte melden. Danke

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